Das Alle-Wege-Modell

Bisher wurde das merkwürdige Verhalten des Elektrons beim Doppelspaltversuch so interpretiert, dass das Elektron keine Ortseigenschaft besitzt.
Hier soll eine andere Interpretation beschrieben werden:
Das Elektron nutzt gleichzeitig alle ihm zur Verfügung stehenden Wege (Alle-Wege-Modell). Diese Interpretation ist wie die Erklärung, dass einem Quantenobjekt die Eigenschaft “Ort” nicht zugeschrieben werden kann, mit dem gesunden Menschenverstand nur schwer in Einklang zu bringen.

Die Interpretation des Alle-Wege-Modells, die mit dem Zeigerformalismus Feynmans verknüpft ist, wird durch das sogenannte Superpositionsprinzip mathematisch beschrieben.

Beim Doppelspaltexperiment gibt es für ein Elektron zwei Zustände mit eindeutigen Wegeigenschaften:

ψA: Elektron besitzt die Wegeigenschaft A (d.h. es ist durch den Spalt A gegangen)
ψB: Elektron besitzt die Wegeigenschaft B (d.h. es ist durch den Spalt B gegangen)

In der Quantenmechanik ist auch der überlagerte Zustand ψ = ψA + ψB möglich. Dabei heißt ψ Superposition der Komponenten ψA und ψB.

In der klassischen Physik ist es nicht vorstellbar, dass sich ein Elektron im überlagerten Zustand ψ sowohl durch Spalt A, als auch durch Spalt B bewegt. Das Elektron wird nicht auf zwei Wege aufgeteilt (man kann keine Bruchteile von Elektronen nachweisen), sondern das eine, unteilbare Elektron hat eine mehrdeutige Wegeigenschaft. Mehrdeutig heißt hier, dass bei einer Einzelmessung stets einer der Werte “Wegeigenschaft A” oder “Wegeigenschaft B” gefunden wird, der sich jedoch nicht mit Sicherheit, sondern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhersagen lässt.

Wenn das Elektron eine mehrdeutige Wegeigenschaft besitzt, dann bedeutet dies, dass das Elektron nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt sein muss. Diese Tatsache bezeichnet man auch mit dem Begriff Nichtlokalität. Die Nichtlokalität von Quantenobjekten lässt noch weitere Interpretationen zu:

Das Elektron geht im Doppelspaltexperiment beide Wege gleichzeitig.

Das Elektron nutzt zwei Wege und kann dabei die verschiedenen Wege unterschiedlich stark verwenden. Prinzipiell sollte es auch mehr Wege gehen können.
Feynman formulierte deshalb in seinem Buch “QED – Die seltsame Theorie von Licht und Materie” eine These, nach der ein Quantenobjekt auf dem Weg von Ort A zu Ort B alle denkbaren Wege (mit z. T. unterschiedlichen Intensitäten) zwischen den Orten nutzt. Das Quantenobjekt besitzt also unendlich viele Weg-Komponenten, die sich im Ort B wieder überlagern. Je nachdem, ob mehr konstruktive oder mehr destruktive Interferenz vorliegt, wird das Quantenobjekt mit einer höheren oder niedrigeren Wahrscheinlichkeit am Ort B nachzuweisen sein.

Diese Idee wird auch von Experimenten gestützt, die z. B. Franz Bader durchgeführt hat: Dabei wird die Reflexion von Mikrowellen an einer glatten Fläche untersucht und ein Detektor D registriert die Intensität der reflektierten Strahlen. Nach dem Alle-Wege-Modell breiten sich die Strahlen von der Quelle Q auf allen Wegen aus und interferieren am Ort D. Dabei gibt es Wege, die durch konstruktive Interferenz am Detektor zu einer Intensitätssteigerung führen, und solche, die durch destruktive Interferenz das Signal mindern. Verhindert man die ungünstigen Wege, indem die reflektierende Fläche an den entsprechenden Stellen “geschwärzt” (für Mikrowellen absorbierend gemacht) wird, dann steigt im Detektor die Intensität gegenüber dem glatten Spiegel deutlich an (Bemerkung: Auf diese Art hat man eine Art Gitter konstruiert, das in Richtung des Detektors optimal reflektiert.).
Dieses Experiment ist ein starkes Indiz für die Deutung, dass sich die Mikrowellen auf allen bzw. vielen Wegen ausbreiten. Geht man auch hier von der Mikrowellenstrahlung zu einzeln Mikrowellenquanten über, so stößt man wieder auf die Nichtlokalität der Quanten: Ein Quant nutzt viele Wege.

Die beiden Deutungen, dass das Elektron die Eigenschaft “Ort” nicht besitzt und das “Alle-Wege-Modell” sind bisher als Alternativen formuliert worden. Die Sichtweisen sind jedoch die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Nach Feynman geht das Elektron alle Wege gleichzeitig. Dies widerspricht der klassischen Erfahrung, gemäß der ein Objekt zu einer Zeit nur genau einen Weg nutzen kann. Deshalb besitzt das Elektron nach klassischem Bild auch in der Alle-Wege-Deutung die Eigenschaft “Weg” nicht.

Beschränkt man sich bei dem Alle-Wege-Modell auf die (abschnittsweise) geradlinigen Wege (im Folgenden Zeigerlinien genannt), dann bietet der Zeigerformalismus eine einfache Methode, die in Experimenten ermittelten Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorherzusagen. In verschiedenen Veröffentlichungen haben F. Bader, wie auch J. Küblbeck oder J. Werner oder R. Erb Beispiele angegeben, die vom Schwierigkeitsgrad her auch in Schulen Anwendung finden können. Die Grundidee formulierte J. Küblbeck sinngemäß wie folgt:

Ein Rad mit dem Umfang λ (de-Broglie-Wellenlänge) wird auf der Zeigerlinie abgerollt. Das Rad trägt einen Zeiger, der beim Start (Quelle Q) nach oben zeigt. Die Zeigerstellung am Ziel X ist ein Vektor, der in der Regel die Länge 1 hat und um einen Phasenwinkel j gegenüber der Ausgangslage verdreht ist.

Im Doppelspaltexperiment gibt es zwei gleichwertige Wege für das Quantenobjekt, die es gleichzeitig nutzt. Dem entsprechend müssen beim Zeigerformalismus zwei Zeigerlinien berücksichtigt werden. Für beide Zeigerlinien sind nun die Zeigerstellungen zu bestimmen und vektoriell zu addieren (das entspricht der Addition der beiden Komponenten ψA und ψB der Zustandsfunktion ψ). Das Betragsquadrat des resultierenden Vektors ist die Intensität I(X) und entspricht der Wahrscheinlichkeit, das Objekt am Ort X anzutreffen. Wegen der vektoriellen Addition kann es je nach Lage des Endpunktes X sowohl zu konstruktiver, wie auch zu destruktiver Interferenz kommen.

In der Abbildung sind für drei verschiedene Detektorpositionen die (unnormierte) Wahrscheinlichkeit eingezeichnet. Werden noch weitere Detektorpositionen untersucht, so erhält man eine Intensitätsverteilung bzw. eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, die das Experiment sehr gut beschreibt.

Zeigermodell

Für den Fall, dass die beiden Wege über eine Messung an den Spalten unterscheidbar sind (Experiment 6.1 im milq-Lehrgang), dürfen die Zeigerstellungen nicht mehr vektoriell addiert werden, da durch die Ortsmessung die Interferenzfähigkeit (Kohärenz) zerstört wird. In diesem Fall sind die Betragsquadrate zu addieren. Hier kann sich die Intensität mit jedem neuen Weg nur erhöhen.

Im allgemeinen Fall können es noch weit mehr Zeigerlinien sein, die von einem Quantenobjekt genutzt werden. Dann müssen die Zeigerlinien gruppiert werden. Alle Zeigerlinien, die das Quantenobjekt ununterscheidbar und gleichzeitig nutzt, werden zu einer Gruppe zusammengefasst. Die Intensität I(X) wird nun bestimmt, indem die Zeigerstellungen innerhalb einer Gruppe vektoriell addiert und anschließend die Beträge der Summenvektoren jeder Gruppe aufsummiert werden. Das Ergebnis ist die (unnormierte) Wahrscheinlichkeit für den Übergang Q → X.

 


Literaturhinweise:
[1] Dr. Josef Küblbeck: “Modellbildung in der Physik”, Materialien Physik Ph22, Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart, Sept. 1997.
[2] Johannes Werner: “Vom Licht zum Atom”, Logos Verlag, Berlin, 2000.
[3] Roger Erb: “Optik mit Lichtwegen”, Westarp-Wissenschaften, Bochum, 1994.
[4] Franz Bader: “Eine Quantenwelt ohne Dualismus”, Schroedel Verlag, Hannover, 1996, S.70f.
[5] Richard Feynman: “QED – The Strange Theory of Light and Matter”, Penguin Books, London oder die deutsche Ausgabe: “Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie”, Piper Verlag, München, Zürich 1992.